Es war Sommersfrühe, die Nachtigallen sangen erst seit einigen Tagendurch die Straßen und verstummten heut in einer kühlen Nacht, welchevon fernen Gewittern zu uns herwehte; der Nachtwächter rief die elfteStunde an, da sah ich, nach Hause gehend, vor der Tür eines großenGebäudes einen Trupp von allerlei Gesellen, die vom Biere kamen, umjemand, der auf den Türstufen saß, versammelt. Ihr Anteil schien mirso lebhaft, daß ich irgendein Unglück besorgte und mich näherte. Eine alte Bäuerin saß auf der Treppe, und so lebhaft die Gesellensich um sie kümmerten, so wenig ließ sie sich von den neugierigenFragen und gutmütigen Vorschlägen derselben stören. Es hatte etwassehr Befremdendes, ja schier Großes, wie die gute alte Frau so sehrwußte, was sie wollte, daß sie, als sei sie ganz allein in ihremKämmerlein, mitten unter den Leuten es sich unter freiem Himmel zurNachtruhe bequem machte. Sie nahm ihre Schürze als ein Mäntelchen um,zog ihren großen schwarzen, wachsleinenen Hut tiefer in die Augen,legte sich ihr Bündel unter den Kopf zurecht und gab auf keine FrageAntwort. “Was fehlt dieser alten Frau?” fragte ich einen der Anwesenden; dakamen Antworten von allen Seiten: “Sie kömmt sechs Meilen Weges vomLande, sie kann nicht weiter, sie weiß nicht Bescheid in der Stadt,sie hat Befreundete am andern Ende der Stadt und kann nicht hinfinden,“–“Ich wollte sie führen”, sagte einer, “aber es ist ein weiter Weg,und ich habe meinen Hausschlüssel nicht bei mir. Auch würde sie dasHaus nicht kennen, wo sie hin will.”–“Aber hier kann die Frau nichtliegen bleiben”, sagte ein Neuhinzugetretener. “Sie will aberplatterdings”, antwortete der erste; “ich habe es ihr längst gesagt,ich wolle sie nach Haus bringen, doch sie redet ganz verwirrt, ja siemuß wohl betrunken sein.”–“Ich glaube, sie ist blödsinnig. Aberhier kann sie doch in keinem Falle bleiben”, wiederholte jener, “dieNacht ist kühl und lang.” Während allem diesem Gerede war die Alte, grade als ob sie taub undblind sei, ganz ungestört mit ihrer Zubereitung fertig geworden, undda der letzte abermals sagte: “Hier kann sie doch nicht bleiben”,erwiderte sie, mit einer wunderlich tiefen und ernsten Stimme: “Warum soll ich nicht hier bleiben? Ist dies nicht ein herzoglichesHaus? Ich bin achtundachtzig Jahre alt, und der Herzog wird michgewiß nicht von seiner Schwelle treiben. Drei Söhne sind in seinemDienst gestorben, und mein einziger Enkel hat seinen Abschiedgenommen;–Gott verzeiht es ihm gewiß, und ich will nicht sterben,bis er in seinem ehrlichen Grab liegt.” “Achtundachtzig Jahre und sechs Meilen gelaufen!” sagten dieUmstehenden, “sie ist müd und kindisch, in solchem Alter wird derMensch schwach.” “Mutter, Sie kann aber den Schnupfen kriegen und sehr krank werdenhier, und Langeweile wird Sie auch haben”, sprach nun einer derGesellen und beugte sich näher zu ihr. Da sprach die Alte wieder mit ihrer tiefen Stimme, halb bittend, halbbefehlend: “O laßt mir meine Ruhe und seid nicht unvernünftig; ich brauch keinenSchnupfen, ich brauche keine Langeweile; es ist ja schon spät an derZeit, achtundachtzig bin ich alt, der Morgen wird bald anbrechen, dageh ich zu meinen Befreundeten. Wenn ein Mensch fromm ist und hatSchicksale und kann beten, so kann er die paar armen Stunden auchnoch wohl hinbringen.” Die Leute hatten sich nach und nach verloren, und die letzten, welchenoch da standen, eilten auch hinweg, weil der Nachtwächter durch dieStraße kam und sie sich von ihm ihre Wohnungen wollten öffnen lassen.So war ich allein noch gegenwärtig. Die Straße ward ruhiger. Ichwandelte nachdenkend unter den Bäumen des vor mir liegenden freienPlatzes auf und nieder; das Wesen der Bäuerin, ihr bestimmter,ernster Ton, ihre Sicherheit im Leben, das sie achtundachtzigmal mitseinen Jahreszeiten hatte zurückkehren sehen, und das ihr nur wie einVorsaal im Bethause erschien, hatten mich mannigfach erschüttert.“Was sind alle Leiden, alle Begierden meiner Brust? Die Sterne gehenewig unbekümmert ihren Weg–wozu suche ich Erquickung und Labung, undvon wem suche ich sie und für wen? Alles, was ich hier suche undliebe und erringe, wird es mich je dahin bringen, so ruhig wie diesegute, fromme Seele die Nacht auf der Schwelle des Hauses zubringen zukönnen, bis der Morgen erscheint, und werde ich dann den Freundfinden wie sie? Ach, ich werde die Stadt gar nicht erreichen, ichwerde wegemüde schon in dem Sande vor dem Tore umsinken undvielleicht gar in die Hände der Räuber fallen.” So sprach ich zu mirselbst, und als ich durch den Lindengang mich der Alten wiedernäherte, hörte ich sie halblaut mit gesenktem Kopfe vor sich hinbeten. Ich war wunderbar gerührt und trat zu ihr hin und sprach:“Mit Gott, fromme Mutter, bete Sie auch ein wenig für mich!”–beiwelchen Worten ich ihr einen Taler in die Schürze warf. Die Alte sagte hierauf ganz ruhig: “Hab tausend Dank, mein lieberHerr, daß du mein Gebet erhört.” Ich glaubte, sie spreche mit mir, und sagte: “Mutter, habt Ihr michdenn um etwas gebeten? Ich wüßte nicht.” Da fuhr die Alte überrascht auf und sprach: “Lieber Herr, gehe Erdoch nach Haus und bete Er fein und lege Er sich schlafen. Was ziehtEr so spät noch auf der Gasse herum? Das ist jungen Gesellen garnichts nütze; denn der Feind geht um und suchet, wo er sich einenerfange. Es ist mancher durch solch Nachtlaufen verdorben. Wensucht Er? Den Herrn? Der ist in des Menschen Herz, so erzüchtiglich lebt, und nicht auf der Gasse. Sucht Er aber den Feind,so hat Er ihn schon; gehe Er hübsch nach Haus und bete Er, daß Er ihnloswerde. Gute Nacht!” Nach diesen Worten wendete sie sich ganz ruhig nach der andern Seiteund steckte den Taler in ihren Reisesack. Alles, was die Alte tat,machte einen eigentümlichen ernsten Eindruck auf mich, und ich sprachzu ihr: “Liebe Mutter, Ihr habt wohl recht, aber Ihr selbst seid es,was mich hier hält; ich hörte Euch beten und wollte Euch ansprechen,meiner dabei zu gedenken.” “Das ist schon geschehen”, sagte sie; “als ich Ihn so durch denLindengang wandeln sah, bat ich Gott, er möge Euch gute Gedankengeben. Nun habe Er sie, und gehe Er fein schlafen!” Ich aber setzte mich zu ihr nieder auf die Treppe und ergriff ihredürre Hand und sagte: “Lasset mich hier bei Euch sitzen die Nachthindurch, und erzählet mir, woher Ihr seid, und was Ihr hier in derStadt sucht; Ihr habt hier keine Hülfe, in Eurem Alter ist man Gottnäher als den Menschen; die Welt hat sich verändert, seit Ihr jungwart.” “Daß ich nicht wüßte”, erwiderte die Alte, “ich habs mein Lebetagganz einerlei gefunden; Er ist noch zu jung, da verwundert man sichüber alles; mir ist alles schon so oft wieder vorgekommen, daß ich esnur noch mit Freuden ansehe, weil es Gott so treulich damit meinet.Aber man soll keinen guten Willen von sich weisen, wenn er einem auchgrade nicht not tut, sonst möchte der liebe Freund ausbleiben, wenner ein andermal gar willkommen wäre; bleibe Er drum immer sitzen, undsehe Er, was Er mir helfen kann. Ich will Ihm erzählen, was mich indie Stadt den weiten Weg treibt. Ich hätt es nicht gedacht, wiederhierher zu kommen. Es sind siebenzig Jahre, daß ich hier in demHause als Magd gedient habe, auf dessen Schwelle ich sitze, seitdemwar ich nicht mehr in der Stadt; was die Zeit herumgeht! Es ist, alswenn man eine Hand umwendet. Wie oft habe ich hier am Abend gesessenvor siebzig Jahren und habe auf meinen Schatz gewartet, der bei derGarde stand! Hier haben wir uns auch versprochen. Wenn erhier–aber still, da kömmt die Runde vorbei.” Da hob sie an, mit gemäßigter Stimme, wie etwa junge Mägde und Dienerin schönen Mondnächten, vor der Tür zu singen, und ich hörte mitinnigem Vergnügen folgendes schöne alte Lied von ihr: Wann der jüngste Tag wird werden,Dann fallen die Sternelein auf die Erden.Ihr Toten, ihr Toten sollt auferstehn,Ihr sollt vor das Jüngste Gerichte gehn;Ihr sollt treten auf die Spitzen,Da die lieben Engelein sitzen.Da kam der liebe Gott gezogenMit einem schönen Regenbogen.Da kamen die falschen Juden gegangen,Die führten einst unsern Herrn Christum gefangen.Die hohen Bäum erleuchten sehr,Die harten Stein zerknirschten sehr.Wer dies Gebetlein beten kann,Der bets des Tages nur einmal,Die Seele wird vor Gott bestehn,Wann wir werden zum Himmel eingehn!Amen. Als die Runde uns näher kam, wurde die gute Alte gerührt. “Ach”,sagte sie, “es ist heute der sechszehnte Mai, es ist doch alleseinerlei, grade wie damals, nur haben sie andere Mützen auf und keineZöpfe mehr. Tut nichts, wenns Herz nur gut ist!” Der Offizier derRunde blieb bei uns stehen und wollte eben fragen, was wir hier sospät zu schaffen hätten, als ich den Fähnrich Graf Grossinger, einenBekannten, in ihm erkannte. Ich sagte ihm kurz den ganzen Handel,und er sagte, mit einer Art von Erschütterung: “Hier haben Sie einenTaler für die Alte und eine Rose”–die er in der Hand trug–; “soalte Bauersleute haben Freude an Blumen. Bitten Sie die Alte, Ihnenmorgen das Lied in die Feder zu sagen, und bringen Sie mir es. Ichhabe lange nach dem Lied getrachtet, aber es nie ganz habhaft werdenkönnen.” Hiermit schieden wir, denn der Posten der nah gelegenenHauptwache, bis zu welcher ich ihn über den Platz begleitet hatte,rief: “Wer da?” Er sagte mir noch, daß er die Wache am Schlosse habe,ich solle ihn dort besuchen. Ich ging zu der Alten zurück und gabihr die Rose und den Taler. Die Rose ergriff sie mit einer rührenden Heftigkeit und befestigtesie sich auf ihren Hut, indem sie mit einer etwas feineren Stimme undfast weinend die Worte sprach: Rosen die Blumen auf meinem Hut,Hätt ich viel Geld, das wäre gut,Rosen und mein Liebchen. Ich sagte zu ihr: “Ei, Mütterchen, Ihr seid ja ganz munter geworden”,und sie erwiderte: Munter, munterImmer bunter,Immer runder.Oben stund er,Nun bergunter,‘s ist kein Wunder! “Schau Er, lieber Mensch, ist es nicht gut, daß ich hier sitzengeblieben? Es ist alles einerlei, glaub Er mir; heut sind essiebenzig Jahre, da saß ich hier vor der Türe, ich war eine flinkeMagd und sang gern alle Lieder. Da sang ich auch das Lied vomJüngsten Gericht wie heute, da die Runde vorbeiging, und da warf mirein Grenadier im Vorübergehn eine Rose in den Schoß–die Blätter habich noch in meiner Bibel liegen–, das war meine erste Bekanntschaftmit meinem seligen Mann. Am andern Morgen hatte ich die Rosevorgesteckt in der Kirche, und da fand er mich, und es ward baldrichtig. Drum hat es mich gar sehr gefreut, daß mir heut wieder eineRose ward. Es ist ein Zeichen, daß ich zu ihm kommen soll, unddarauf freu ich mich herzlich. Vier Söhne und eine Tochter sind mirgestorben, vorgestern hat mein Enkel seinen Abschied genommen–Gotthelfe ihm und erbarme sich seiner!–und morgen verläßt mich eineandre gute Seele, aber was sag ich morgen, ist es nicht schonMitternacht vorbei?” “Es ist zwölfe vorüber”, erwiderte ich, verwundert über ihre Rede. “Gott gebe ihr Trost und Ruhe die vier Stündlein, die sie noch hat!”sagte die Alte und ward still, indem sie die Hände faltete. Ichkonnte nicht sprechen, so erschütterten mich ihre Worte und ihrganzes Wesen. Da sie aber ganz stille blieb und der Taler desOffiziers noch in ihrer Schürze lag, sagte ich zu ihr: “Mutter,steckt den Taler zu Euch, Ihr könntet ihn verlieren.” “Den wollen wir nicht weglegen, den wollen wir meiner Befreundetenschenken in ihrer letzten Not!” erwiderte sie. “Den ersten Talernehm ich morgen wieder mit nach Haus, der gehört meinem Enkel, dersoll ihn genießen. Ja seht, es ist immer ein herrlicher Jungegewesen und hielt etwas auf seinen Leib und auf seine Seele–ach Gott,auf seine Seele!–Ich habe gebetet den ganzen Weg, es ist nichtmöglich, der liebe Herr läßt ihn gewiß nicht verderben. Unter allenBurschen war er immer der reinlichste und fleißigste in der Schule,aber auf die Ehre war er vor allem ganz erstaunlich. Sein Leutnanthat auch immer gesprochen: “Wenn meine Schwadron Ehre im Leibe hat,so sitzt sie bei dem Finkel im Quartier.” Er war unter den Ulanen.Als er zum erstenmal aus Frankreich zurückkam, erzählte er allerleischöne Geschichten, aber immer war von der Ehre dabei die Rede. SeinVater und sein Stiefbruder waren bei dem Landsturm und kamen oft mitihm wegen der Ehre in Streit; denn was er zuviel hatte, hatten sienicht genug. Gott verzeih mir meine schwere Sünde, ich will nichtschlecht von ihnen reden, jeder hat sein Bündel zu tragen: aber meineselige Tochter, seine Mutter, hat sich zu Tode gearbeitet bei demFaulpelz, sie konnte nicht erschwingen, seine Schulden zu tilgen.Der Ulan erzählte von den Franzosen, und als der Vater undStiefbruder sie ganz schlecht machen wollten, sagte der Ulan: “Vater,das versteht Ihr nicht, sie haben doch viel Ehre im Leibe!” Da wardder Stiefbruder tückisch und sagte: “Wie kannst du deinem Vater soviel von der Ehre vorschwatzen? War er doch Unteroffizier im N…schen Regiment und muß es besser als du verstehn, der nur Gemeinerist!”–“Ja”, sagte da der alte Finkel, der nun auch rebellisch ward,“das war ich und habe manchen vorlauten Burschen fünfundzwanzigaufgezählt; hätte ich nur Franzosen in der Kompanie gehabt, diesollten sie noch besser gefühlt haben, mit ihrer Ehre!” Die Rede tatdem Ulanen gar weh, und er sagte: “Ich will ein Stückchen von einemfranzösischen Unteroffizier erzählen, das gefällt mir besser. Untermvorigen König sollten auf einmal die Prügel bei der französischenArmee eingeführt werden. Der Befehl des Kriegsministers wurde zuStraßburg bei einer großen Parade bekanntgemacht, und die Truppenhörten in Reih und Glied die Bekanntmachung mit stillem Grimm an. Daaber noch am Schluß der Parade ein Gemeiner einen Exzeß machte, wurdesein Unteroffizier vorkommandiert, ihm zwölf Hiebe zu geben. Eswurde ihm mit Strenge befohlen, und er mußte es tun. Als er aberfertig war, nahm er das Gewehr des Mannes, den er geschlagen hatte,stellte es vor sich an die Erde und drückte mit dem Fuße los, daß ihmdie Kugel durch den Kopf fuhr und er tot niedersank. Das wurde anden König berichtet, und der Befehl, Prügel zu geben, ward gleichzurückgenommen. Seht, Vater, das war ein Kerl, der Ehre im Leibhatte!”–“Ein Narr war es”, sprach der Bruder. “Freß deine Ehre,wenn du Hunger hast!” brummte der Vater. Da nahm mein Enkel seinenSäbel und ging aus dem Haus und kam zu mir in mein Häuschen underzählte mir alles und weinte die bittern Tränen. Ich konnte ihmnicht helfen; die Geschichte, die er mir auch erzählte, konnte ichzwar nicht ganz verwerfen, aber ich sagte ihm doch immer zuletzt:“Gib Gott allein die Ehre!” Ich gab ihm noch den Segen, denn seinUrlaub war am andern Tage aus, und er wollte noch eine Meile umreitennach dem Orte, wo ein Patchen von mir auf dem Edelhof diente, auf dieer gar viel hielt; er wollte einmal mit ihr hausen.–Sie werden auchwohl bald zusammenkommen, wenn Gott mein Gebet erhört. Er hat seinenAbschied schon genommen, mein Patchen wird ihn heut erhalten, und dieAussteuer hab ich auch schon beisammen, es soll auf der Hochzeitweiter niemand sein als ich.” Da ward die Alte wieder still undschien zu beten. Ich war in allerlei Gedanken über die Ehre, und obein Christ den Tod des Unteroffiziers schön finden dürfe. Ich wollte,es sagte mir einmal einer etwas Hinreichendes darüber. Als der Wächter ein Uhr anrief, sagte die Alte: “Nun habe ich nochzwei Stunden. Ei, ist Er noch da, warum geht Er nicht schlafen? Erwird morgen nicht arbeiten können und mit seinem Meister Händelkriegen; von welchem Handwerk ist Er denn, mein guter Mensch?” Da wußte ich nicht recht, wie ich es ihr deutlich machen sollte, daßich ein Schriftsteller sei. “Ich bin ein Gestudierter”, durfte ichnicht sagen, ohne zu lügen. Es ist wunderbar, daß ein Deutscherimmer sich ein wenig schämt, zu sagen, er sei ein Schriftsteller; zuLeuten aus den untern Ständen sagt man es am ungernsten, weil diesengar leicht die Schriftgelehrten und Pharisäer aus der Bibel dabeieinfallen. Der Name Schriftsteller ist nicht so eingebürgert bei uns,wie das homme de lettres bei den Franzosen, welche überhaupt alsSchriftsteller zünftig sind und in ihren Arbeiten mehr hergebrachtesGesetz haben, ja, bei denen man auch fragt: “Où avez-vous fait votrephilosophie? Wo haben Sie Ihre Philosophie gemacht?”, wie denn einFranzose selbst viel mehr von einem gemachten Manne hat. Doch diesenicht deutsche Sitte ist es nicht allein, welche das WortSchriftsteller so schwer auf der Zunge macht, wenn man am Tore umseinen Charakter gefragt wird, sondern eine gewisse innere Scham hältuns zurück, ein Gefühl, welches jeden befällt, der mit freien undgeistigen Gütern, mit unmittelbaren Geschenken des Himmels Handeltreibt. Gelehrte brauchen sich weniger zu schämen als Dichter; dennsie haben gewöhnlich Lehrgeld gegeben, sind meist in ämtern desStaats, spalten an groben Klötzen oder arbeiten in Schachten, wo vielwilde Wasser auszupumpen sind. Aber ein sogenannter Dichter ist amübelsten daran, weil er meistens aus dem Schulgarten nach dem Parnaßentlaufen, und es ist auch wirklich ein verdächtiges Ding um einenDichter von Profession, der es nicht nur nebenher ist. Man kann sehrleicht zu ihm sagen: “Mein Herr, ein jeder Mensch hat, wie Hirn, Herz,Magen, Milz, Leber und dergleichen, auch eine Poesie im Leibe; weraber eines dieser Glieder überfüttert, verfüttert oder mästet und esüber alle andre hinüber treibt, ja es gar zum Erwerbszweig macht, dermuß sich schämen vor seinem ganzen übrigen Menschen. Einer, der vonder Poesie lebt, hat das Gleichgewicht verloren, und eine übergroßeGänseleber, sie mag noch so gut schmecken, setzt doch immer einekranke Gans voraus.” Alle Menschen, welche ihr Brot nicht im Schweißihres Angesichts verdienen, müssen sich einigermaßen schämen, und dasfühlt einer, der noch nicht ganz in der Tinte war, wenn er sagen soll,er sei ein Schriftsteller. So dachte ich allerlei und besann mich,was ich der Alten sagen sollte, welche, über mein Zögern verwundert,mich anschaute und sprach: “Welch ein Handwerk Er treibt, frage ich; warum will Er mirs nichtsagen? Treibt Er kein ehrlich Handwerk, so greif Ers noch an, es hateinen goldnen Boden. Er ist doch nicht etwa gar ein Henker oderSpion, der mich ausholen will? Meinethalben sei Er, wer Er will, sagErs, wer Er ist? Wenn Er bei Tage so hier säße, würde ich glauben,Er sei ein Lehnerich, so ein Tagedieb, der sich an die Häuser lehnt,damit er nicht umfällt vor Faulheit.” Da fiel mir ein Wort ein, das mir vielleicht eine Brücke zu ihremVerständnis schlagen könnte: “Liebe Mutter”, sagte ich, “ich bin einSchreiber.”–“Nun”, sagte sie, “das hätte Er gleich sagen sollen. Erist also ein Mann von der Feder; dazu gehören feine Köpfe undschnelle Finger und ein gutes Herz, sonst wird einem drauf geklopft.Ein Schreiber ist Er? Kann Er mir dann wohl eine Bittschriftaufsetzen an den Herzog, die aber gewiß erhört wird und nicht bei denvielen andern liegen bleibt?” “Eine Bittschrift, liebe Mutter”, sprach ich, “kann ich Ihr wohlaufsetzen, und ich will mir alle Mühe geben, daß sie rechteindringlich abgefaßt sein soll.” “Nun, das ist brav von Ihm”, erwiderte sie, “Gott lohn es Ihm undlasse Ihn älter werden als mich und gebe Ihm auch in Seinem Altereinen so geruhigen Mut und eine so schöne Nacht mit Rosen und Talernwie mir und auch einen Freund, der ihm eine Bittschrift macht, wennes Ihm not tut. Aber jetzt gehe Er nach Haus, lieber Freund, undkaufe Er sich einen Bogen Papier und schreibe Er die Bittschrift; ichwill hier auf Ihn warten, noch eine Stunde, dann gehe ich zu meinerPate, Er kann mitgehen; sie wird sich auch freuen an der Bittschrift.Sie hat gewiß ein gut Herz, aber Gottes Gerichte sind wunderbar.” Nach diesen Worten ward die Alte wieder still, senkte den Kopf undschien zu beten. Der Taler lag noch auf ihrem Schoß. Sie weinte.“Liebe Mutter, was fehlt Euch, was tut Euch so weh, Ihr weinet?”sprach ich. “Nun, warum soll ich denn nicht weinen? Ich weine auf den Taler, ichweine auf die Bittschrift, auf alles weine ich. Aber es hilft nichts,es ist doch alles viel, viel besser auf Erden, als wir Menschen esverdienen, und gallenbittre Tränen sind noch viel zu süße. Sehe Ernur einmal das goldne Kamel da drüben, an der Apotheke, wie doch Gottalles so herrlich und wunderbar geschaffen hat! Aber der Menscherkennt es nicht, und ein solch Kamel geht eher durch ein Nadelöhrals ein Reicher in das Himmelreich.–Aber was sitzt Er denn immer da?Gehe Er, den Bogen Papier zu kaufen, und bringe Er mir dieBittschrift.” “Liebe Mutter”, sagte ich, “wie kann ich Euch die Bittschrift machen,wenn Ihr mir nicht sagt, was ich hineinschreiben soll?” “Das muß ich Ihm sagen?” erwiderte sie; “dann ist es freilich keineKunst, und wundre ich mich nicht mehr, daß Er sich einen Schreiber zunennen schämte. wenn man Ihm alles sagen soll. Nun, ich will meinMögliches tun. Setz Er in die Bittschrift, daß zwei Liebendebeieinander ruhen sollen, und daß sie einen nicht auf die Anatomiebringen sollen, damit man seine Glieder beisammen hat, wenn es heißt:“Ihr Toten, ihr Toten sollt auf erstehn, ihr sollt vor das JüngsteGerichte gehn!”” Da fing sie wieder bitterlich an zu weinen. Ich ahnete, ein schweres Leid müsse auf ihr lasten, aber sie fühlebei der Bürde ihrer Jahre nur in einzelnen Momenten sich schmerzlichgerührt. Sie weinte, ohne zu klagen, ihre Worte waren immer gleichruhig und kalt. Ich bat sie nochmals, mir die ganze Veranlassung zuihrer Reise in die Stadt zu erzählen, und sie sprach: “Mein Enkel,der Ulan, von dem ich Ihm erzählte, hatte doch mein Patchen sehr lieb,wie ich Ihm vorher sagte, und sprach der schönen Annerl, wie dieLeute sie ihres glatten Spiegels wegen nannten, immer von der Ehrevor und sagte ihr immer, sie solle auf ihre Ehre halten und auch aufseine Ehre. Da kriegte dann das Mädchen etwas ganz Apartes in ihrGesicht und ihre Kleidung von der Ehre; sie war feiner undmanierlicher als alle andere Dirnen. Alles saß ihr knapper am Leibe,und wenn sie ein Bursche einmal ein wenig derb beim Tanze anfaßteoder sie etwa höher als den Steg der Baßgeige schwang, so konnte siebitterlich darüber bei mir weinen und sprach dabei immer, es seiwider ihre Ehre. Ach, das Annerl ist ein eignes Mädchen immergewesen. Manchmal, wenn kein Mensch es sich versah, fuhr sie mitbeiden Händen nach ihrer Schürze und riß sie sich vom Leibe, als obFeuer drin sei, und dann fing sie gleich entsetzlich an zu weinen;aber das hat seine Ursache, es hat sie mit Zähnen hingerissen, derFeind ruht nicht. Wäre das Kind nur nicht stets so hinter der Ehreher gewesen und hätte sich lieber an unsren lieben Gott gehalten,hätte ihn nie von sich gelassen, in aller Not, und hätte seinetwillenSchande und Verachtung ertragen statt ihrer Menschenehre. Der Herrhätte sich gewiß erbarmt und wird es auch noch; ach, sie kommen gewißzusammen, Gottes Wille geschehe! Der Ulan stand wieder in Frankreich, er hatte lange nicht geschrieben,und wir glaubten ihn fast tot und weinten oft um ihn. Er war aberim Hospital an einer schweren Blessur krank gelegen, und als erwieder zu seinen Kameraden kam und zum Unteroffizier ernannt wurde,fiel ihm ein, daß ihm vor zwei Jahren sein Stiefbruder so übers Maulgefahren: er sei nur Gemeiner und der Vater Korporal, und dann dieGeschichte von dem französischen Unteroffizier, und wie er seinemAnnerl von der Ehre so viel geredet, als er Abschied genommen. Daverlor er seine Ruhe und kriegte das Heimweh und sagte zu seinemRittmeister, der ihn um sein Leid fragte: “Ach, Herr Rittmeister, esist, als ob es mich mit den Zähnen nach Hause zöge.” Da ließen sieihn heimreisen mit seinem Pferd, denn alle seine Offiziere trautenihm. Er kriegte auf drei Monate Urlaub und sollte mit der Remontewieder zurückkommen. Er eilte, so sehr er konnte, ohne seinem Pferdewehe zu tun, welches er besser pflegte als jemals, weil es ihm waranvertraut worden. An einem Tage trieb es ihn ganz entsetzlich, nachHause zu eilen; es war der Tag vor dem Sterbetage seiner Mutter, undes war ihm immer, als laufe sie vor seinem Pferde her und riefe:“Kasper, tue mir eine Ehre an!” Ach, ich saß an diesem Tage aufihrem Grabe ganz allein und dachte auch: wenn Kasper doch bei mirwäre! Ich hatte Blümelein Vergißnichtmein in einen Kranz gebundenund an das eingesunkene Kreuz gehängt und maß mir den Platz umher ausund dachte: hier will ich liegen, und da soll Kasper liegen, wenn ihmGott sein Grab in der Heimat schenkt, daß wir fein beisammen sind,wenns heißt: “Ihr Toten, ihr Toten sollt auferstehn, ihr sollt zumJüngsten Gerichte gehn!” Aber Kasper kam nicht, ich wußte auch nicht,daß er so nahe war und wohl hätte kommen können. Es trieb ihn auchgar sehr, zu eilen; denn er hatte wohl oft an diesen Tag inFrankreich gedacht und hatte einen kleinen Kranz von schönenGoldblumen von daher mitgebracht, um das Grab seiner Mutter zuschmücken, und auch einen Kranz für Annerl, den sollte sie sich biszu ihrem Ehrentage bewahren.” Hier ward die Alte still und schüttelte mit dem Kopf; als ich aberdie letzten Worte wiederholte: “Den sollte sie sich bis zu ihremEhrentage bewahren”, fuhr sie fort: “Wer weiß, ob ich es nichterflehen kann; ach, wenn ich den Herzog nur wecken dürfte!”–“Wozu?”fragte ich, “welch Anliegen habt Ihr denn, Mutter?” Da sagte sieernst: “O, was läge am ganzen Leben, wenns kein End nähme; was lägeam Leben, wenn es nicht ewig wäre!” und fuhr dann in ihrer Erzählungfort. “Kasper wäre noch recht gut zu Mittag in unserm Dorfe angekommen,aber morgens hatte ihm sein Wirt im Stalle gezeigt, daß sein Pferdgedrückt sei, und dabei gesagt: “Mein Freund, das macht dem Reiterkeine Ehre.” Das Wort hatte Kasper tief empfunden; er legte deswegenden Sattel hohl und leicht auf, tat alles, ihm die Wunde zu heilen,und setzte seine Reise, das Pferd am Zügel führend, zu Fuße fort. Sokam er am späten Abend bis an eine Mühle, eine Meile von unserm Dorf,und weil er den Müller als einen alten Freund seines Vaters kannte,sprach er bei ihm ein und wurde wie ein recht lieber Gast aus derFremde empfangen. Kasper zog sein Pferd in den Stall, legte denSattel und sein Felleisen in einen Winkel und ging nun zu dem Müllerin die Stube. Da fragte er dann nach den Seinigen und hörte, daß ichalte Großmutter noch lebe, und daß sein Vater und sein Stiefbrudergesund seien, und daß es recht gut mit ihnen gehe; sie wären erstgestern mit Getreide auf der Mühle gewesen, sein Vater habe sich aufden Roß–und Ochsenhandel gelegt und gedeihe dabei recht gut, auchhalte er jetzt etwas auf seine Ehre und gehe nicht mehr so zerrissenumher. Darüber war der gute Kasper nun herzlich froh, und da er nachder schönen Annerl fragte, sagte ihm der Müller: er kenne sie nicht,aber wenn es die sei, die auf dem Rosenhof gedient habe, die hättesich, wie er gehört, in der Hauptstadt vermietet, weil sie da eheretwas lernen könne und mehr Ehre dabei sei; so habe er vor einemJahre von dem Knecht auf dem Rosenhof gehört. Das freute den Kasperauch; wenn es ihm gleich leid tat, daß er sie nicht gleich sehensollte, so hoffte er sie doch in der Hauptstadt bald recht fein undschmuck zu finden, daß es ihm, als einem Unteroffizier, auch einerechte Ehre sei, mit ihr am Sonntag spazieren zu gehn. Nun erzählteer dem Müller noch mancherlei aus Frankreich, sie aßen und trankenmiteinander, er half ihm Korn aufschütten, und dann brachte ihn derMüller in die Oberstube zu Bett und legte sich selbst unten aufeinigen Säcken zur Ruhe. Das Geklapper der Mühle und die Sehnsuchtnach der Heimat ließen den guten Kasper, wenn er gleich sehr müde war,nicht fest einschlafen. Er war sehr unruhig und dachte an seineselige Mutter und an das schöne Annerl und an die Ehre, die ihmbevorstehe, wenn er als Unteroffizier vor die Seinigen treten würde.So entschlummerte er endlich leis und wurde von ängstlichen Träumenoft aufgeschreckt. Es war ihm mehrmals, als trete seine seligeMutter zu ihm und bäte ihn händeringend um Hülfe; dann war es ihm,als sei er gestorben und würde begraben, gehe aber selbst zu Fuße alsToter mit zu Grabe, und schön Annerl gehe ihm zur Seite; er weinteheftig, daß ihn seine Kameraden nicht begleiteten, und da er auf denKirchhof komme, sei sein Grab neben dem seiner Mutter; und AnnerlsGrab sei auch dabei, und er gebe Annerl das Kränzlein, das er ihrmitgebracht, und hänge das der Mutter an ihr Grab, und dann habe ersich umgeschaut und niemand mehr gesehen als mich und die Annerl; diehabe einer an der Schürze ins Grab gerissen, und er sei dann auch insGrab gestiegen und habe gesagt: “Ist denn niemand hier, der mir dieletzte Ehre antut und mir ins Grab schießen will als einem bravenSoldaten?” und da habe er sein Pistol gezogen und sich selbst insGrab geschossen. über dem Schuß wachte er mit großem Schrecken auf,denn es war ihm, als klirrten die Fenster davon. Er sah um sich inder Stube, da hörte er noch einen Schuß fallen und hörte Getöse inder Mühle und Geschrei durch das Geklapper. Er sprang aus dem Bettund griff nach seinem Säbel; in dem Augenblick ging seine Türe auf,und er sah beim Vollmondschein zwei Männer mit berußten Gesichternmit Knitteln auf sich zustürzen, aber er setzte sich zur Wehre undhieb den einen über den Arm, und so entflohen beide, indem sie dieTür, welche nach außen aufging und einen Riegel draußen hatte, hintersich verriegelten. Kasper versuchte umsonst, ihnen nachzukommen;endlich gelang es ihm, eine Tafel in der Türe einzutreten. Er eiltedurch das Loch die Treppe hinunter und hörte das Wehgeschrei desMüllers, den er geknebelt zwischen den Kornsäcken liegend fand.Kasper band ihn los und eilte dann gleich in den Stall, nach seinemPferde und Felleisen, aber beides war geraubt. Mit großem Jammereilte er in die Mühle zurück und klagte dem Müller sein Unglück, daßihm all sein Hab und Gut und das ihm anvertraute Pferd gestohlen sei,über welches letztere er sich gar nicht zufrieden geben konnte. DerMüller aber stand mit einem vollen Geldsack vor ihm, er hatte ihn inder Oberstube aus dem Schranke geholt und sagte zu dem Ulan: LieberKasper, sei Er zufrieden, ich verdanke Ihm die Rettung meinesVermögens; auf diesen Sack, der oben in Seiner Stube lag, hatten esdie Räuber gemünzt, und Seiner Verteidigung danke ich alles, mir istnichts gestohlen. Die Sein Pferd und Sein Felleisen im Stall fanden,müssen ausgestellte Diebeswachen gewesen sein, sie zeigten durch dieSchüsse an, daß Gefahr da sei, weil sie wahrscheinlich am Sattelzeugerkannten, daß ein Kavallerist im Hause herberge. Nun soll Ermeinethalben keine Not haben, ich will mir alle Mühe geben und keinGeld sparen, Ihm Seinen Gaul wiederzufinden, und finde ich ihn nicht,so will ich Ihm einen kaufen, so teuer er sein mag., Kasper sagte:“Geschenkt nehme ich nichts, das ist gegen meine Ehre; aber wenn Ermir im Notfall siebzig Taler vorschießen will, so kriegt er meineVerschreibung, ich schaffe sie in zwei Jahren wieder.” Hierüberwurden sie einig, und der Ulan trennte sich von ihm, um nach seinemDorfe zu eilen, wo auch ein Gerichtshalter der umliegenden Edelleutewohnt, bei dem er die Sache berichten wollte. Der Müller bliebzurück, um seine Frau und seinen Sohn zu erwarten, welche auf einemDorfe in der Nähe bei einer Hochzeit waren. Dann wollte er demUlanen nachkommen und die Anzeige vor Gericht auch machen. Er kann sich denken, lieber Herr Schreiber, mit welcher Betrübnis derarme Kasper den Weg nach unserm Dorfe eilte, zu Fuß und arm, wo erhatte stolz einreiten wollen; einundfunfzig Taler, die er erbeutethatte, sein Patent als Unteroffizier, sein Urlaub, und die Kränze aufseiner Mutter Grab und für die schöne Annerl waren ihm gestohlen. Eswar ihm ganz verzweifelt zumute, und so kam er um ein Uhr in derNacht in seiner Heimat an und pochte gleich an der Türe desGerichtshalters, dessen Haus das erste vor dem Dorfe ist. Er wardeingelassen und machte seine Anzeige und gab alles an, was ihmgeraubt worden war. Der Gerichtshalter trug ihm auf, er solle gleichzu seinem Vater gehn, welches der einzige Bauer im Dorfe sei, derPferde habe, und solle mit diesem und seinem Bruder in der Gegendherum patrouillieren, ob er vielleicht den Räubern auf die Spur komme;indessen wolle er andere Leute zu Fuß aussenden und den Müller, wenner komme, um die weiteren Umstände vernehmen. Kasper ging nun vondem Gerichtshalter weg nach dem väterlichen Hause; da er aber anmeiner Hütte vorüber mußte und durch das Fenster hörte, daß ich eingeistliches Lied sang, wie ich denn vor Gedanken an seine seligeMutter nicht schlafen konnte, so pochte er an und sagte: “Gelobt seiJesus Christus, liebe Großmutter, Kasper ist hier.” Ach, wie fuhrenmir die Worte durch Mark und Bein! Ich stürzte an das Fenster,öffnete es und küßte und drückte ihn mit unendlichen Tränen. Ererzählte mir sein Unglück mit großer Eile und sagte, welchen Auftrager an seinen Vater vom Gerichtshalter habe; er müsse drum jetztgleich hin, um den Dieben nachzusetzen, denn seine Ehre hänge davonab, daß er sein Pferd wiedererhalte. Ich weiß nicht, aber das Wort Ehre fuhr mir recht durch alle Glieder,denn ich wußte schwere Gerichte, die ihm bevorstanden. “Tue deinePflicht und gib Gott allein die Ehre!” sagte ich; und er eilte vonmir nach Finkels Hof, der am andern Ende des Dorfs liegt. Ich sank,als er fort war, auf die Knie und betete zu Gott, er möge ihn doch inseinen Schutz nehmen; ach, ich betete mit einer Angst wie niemals undmußte dabei immer sagen: “Herr, dein Wille geschehe wie im Himmel, soauf Erden.” Der Kasper lief zu seinem Vater mit einer entsetzlichen Angst. Erstieg hinten über den Gartenzaun, er hörte die Plumpe gehen, er hörteim Stall wiehern, das fuhr ihm durch die Seele; er stand still, ersah im Mondschein, daß zwei Männer sich wuschen, es wollte ihm dasHerz brechen. Der eine sprach: “Das verfluchte Zeug geht nichtherunter”; da sagte der andre: “Komm erst in den Stall, dem Gaul denSchwanz abzuschlagen und die Mähnen zu verschneiden. Hast du dasFelleisen auch tief genug unterm Mist begraben?”–“Ja”, sagte derandre. Da gingen sie nach dem Stall, und Kasper, vor Jammer wie einRasender, sprang hervor und schloß die Stalltüre hinter ihnen undschrie: “Im Namen des Herzogs! Ergebt euch! Wer sich widersetzt,den schieße ich nieder!” Ach, da hatte er seinen Vater und seinenStiefbruder als die Räuber seines Pferdes gefangen. “Meine Ehre,meine Ehre ist verloren!” schrie er, “ich bin der Sohn eines ehrlosenDiebes.” Als die beiden im Stall diese Worte hörten, ist ihnen böszumute geworden; sie schrien: “Kasper, lieber Kasper, um Gotteswillen, bringe uns nicht ins Elend, Kasper, du sollst ja alleswiederhaben, um deiner seligen Mutter willen, deren Sterbetag heuteist, erbarme dich deines Vaters und Bruders!” Kasper aber war wieverzweifelt, er schrie nur immer: “Meine Ehre, meine Pflicht!”, undda sie nun mit Gewalt die Türe erbrechen wollten und ein Fach in derLehmwand einstoßen, um zu entkommen, schoß er ein Pistol in die Luftund schrie: “Hülfe, Hülfe, Diebe, Hülfe!” Die Bauern, von demGerichtshalter erweckt, welche schon herannahten, um sich über dieverschiedenen Wege zu bereden, auf denen sie die Einbrecher in dieMühle verfolgen wollten, stürzten auf den Schuß und das Geschrei insHaus. Der alte Finkel flehte immer noch, der Sohn solle ihm die Türeöffnen; der aber sagte: “Ich bin ein Soldat und muß der Gerechtigkeitdienen.” Da traten der Gerichtshalter und die Bauern heran. Kaspersagte: “Um Gottes Barmherzigkeit willen, Herr Gerichtshalter, meinVater, mein Bruder sind selbst die Diebe, o daß ich nie geboren wäre!Hier im Stalle habe ich sie gefangen, mein Felleisen liegt im Mistevergraben.” Da sprangen die Bauern in den Stall und banden den altenFinkel und seinen Sohn und schleppten sie in ihre Stube. Kasper abergrub das Felleisen hervor und nahm die zwei Kränze heraus und gingnicht in die Stube, er ging nach dem Kirchhofe an das Grab seinerMutter. Der Tag war angebrochen. Ich war auf der Wiese gewesen undhatte für mich und für Kasper zwei Kränze von BlümeleinVergißnichtmein geflochten; ich dachte: er soll mit mir das Grabseiner Mutter schmücken, wenn er von seinem Ritt zurückkommt. Dahörte ich allerlei ungewohnten Lärm im Dorf, und weil ich dasGetümmel nicht mag und am liebsten alleine bin, so ging ich ums Dorfherum nach dem Kirchhof. Da fiel ein Schuß, ich sah den Dampf in dieHöhe steigen, ich eilte auf den Kirchhof–o du lieber Heiland,erbarme dich sein! Kasper lag tot auf dem Grabe seiner Mutter, erhatte sich die Kugel durch das Herz geschossen, auf welches er sichdas Kränzlein, das er für schön Annerl mitgebracht, am Knopfebefestigt hatte; durch diesen Kranz hatte er sich ins Herz geschossen.Den Kranz für die Mutter hatte er schon an das Kreuz befestigt.Ich meinte, die Erde täte sich unter mir auf bei dem Anblick, ichstürzte über ihn hin und schrie immer: “Kasper, o du unglückseligerMensch, was hast du getan? Ach, wer hat dir denn dein Elend erzählt?O warum habe ich dich von mir gelassen, ehe ich dir alles gesagt!Gott, was wird dein armer Vater, dein Bruder sagen, wenn sie dich sofinden!” Ich wußte nicht, daß er sich wegen diesen das Leid angetan;ich glaubte, es habe eine ganz andere Ursache. Da kam es noch ärger.Der Gerichtshalter und die Bauern brachten den alten Finkel undseinen Sohn mit Stricken gebunden; der Jammer erstickte mir dieStimme in der Kehle, ich konnte kein Wort sprechen; derGerichtshalter fragte mich, ob ich meinen Enkel nicht gesehn. Ichzeigte hin, wo er lag. Er trat zu ihm; er glaubte, er weine auf demGrabe; er schüttelte ihn, da sah er das Blut niederstürzen. “Jesus,Marie!” rief er aus, “der Kasper hat Hand an sich gelegt.” Da sahendie beiden Gefangenen sich schrecklich an; man nahm den Leib desKaspers und trug ihn neben ihnen her nach dem Hause desGerichtshalters; es war ein Wehgeschrei im ganzen Dorfe, dieBauernweiber führten mich nach. Ach, das war wohl der schrecklichsteWeg in meinem Leben!” Da ward die Alte wieder still, und ich sagte zu ihr: “Liebe Mutter,Euer Leid ist entsetzlich, aber Gott hat Euch auch recht lieb; die eram härtesten schlägt, sind seine liebsten Kinder. Sagt mir nun,liebe Mutter, was Euch bewogen hat, den weiten Weg hierher zu gehen,und um was Ihr die Bittschrift einreichen wollt?” “Ei, das kann Er sich doch wohl denken”, fuhr sie ganz ruhig fort,“um ein ehrliches Grab für Kasper und die schöne Annerl, der ich dasKränzlein zu ihrem Ehrentag mitbringe; es ist ganz mit Kaspers Blutunterlaufen, seh Er einmal!” Da zog sie einen kleinen Kranz von Flittergold aus ihrem Bündel undzeigte ihn mir; ich konnte bei dem anbrechenden Tage sehen, daß ervom Pulver geschwärzt und mit Blut besprengt war. Ich war ganzzerrissen von dem Unglück der guten Alten, und die Größe undFestigkeit, womit sie es trug, erfüllte mich mit Verehrung. “Ach,liebe Mutter”, sagte ich, “wie werdet Ihr der armen Annerl aber ihrElend beibringen, daß sie gleich nicht vor Schrecken tot niedersinkt,und was ist denn das für ein Ehrentag, zu welchem Ihr dem Annerl dentraurigen Kranz bringet?” “Lieber Mensch”, sprach sie, “komme Er nur mit, Er kann mich zu ihrbegleiten, ich kann doch nicht geschwind fort, so werden wir siegerade zu rechter Zeit noch finden. Ich will Ihm unterwegs nochalles erzählen.” Nun stand sie auf und betete ihren Morgensegen ganz ruhig und brachteihre Kleider in Ordnung, und ihren Bündel hängte sie dann an meinenArm; es war zwei Uhr des Morgens, der Tag graute, und wir wandeltendurch die stillen Gassen. “Seh Er”, erzählte die Alte fort, “als der Finkel und sein Sohneingesperrt waren, mußte ich zum Gerichtshalter auf die Gerichtsstube;der tote Kasper wurde auf einen Tisch gelegt und, mit seinemUlanenmantel bedeckt, hereingetragen, und nun mußte ich alles demGerichtshalter sagen, was ich von ihm wußte, und was er mir heutemorgen durch das Fenster gesagt hatte. Das schrieb er alles auf seinPapier nieder, das vor ihm lag. Dann sah er die Schreibtafel durch,die sie bei Kasper gefunden; da standen mancherlei Rechnungen drin,einige Geschichten von der Ehre und auch die von dem französischenUnteroffizier, und hinter ihr war mit Bleistift etwas geschrieben.”Da gab mir die Alte die Brieftasche, und ich las folgende letzteWorte des unglücklichen Kaspers: “Auch ich kann meine Schande nichtüberleben. Mein Vater und mein Bruder sind Diebe, sie haben michselbst bestohlen; mein Herz brach mir, aber ich mußte siegefangennehmen und den Gerichten übergeben, denn ich bin ein Soldatmeines Fürsten, und meine Ehre erlaubt mir keine Schonung. Ich habemeinen Vater und Bruder der Rache übergeben um der Ehre willen. Ach,bitte doch jedermann für mich, daß man mir hier, wo ich gefallen bin,ein ehrliches Grab neben meiner Mutter vergönne! Das Kränzlein,durch welches ich mich erschossen, soll die Großmutter der schönenAnnerl schicken und sie von mir grüßen; ach, sie tut mir leid durchMark und Bein, aber sie soll doch den Sohn eines Diebes nichtheiraten, denn sie hat immer viel auf Ehre gehalten. Liebe schöneAnnerl, mögest du nicht so sehr erschrecken über mich, gib dichzufrieden, und wenn du mir jemals ein wenig gut warst, so rede nichtschlecht von mir! Ich kann ja nichts für meine Schande! Ich hattemir so viele Mühe gegeben, in Ehren zu bleiben mein Leben lang, ichwar schon Unteroffizier und hatte den besten Ruf bei der Schwadron,ich wäre gewiß noch einmal Offizier geworden, und Annerl, dich hätteich doch nicht verlassen und hätte keine Vornehmere gefreit–aber derSohn eines Diebes, der seinen Vater aus Ehre selbst fangen undrichten lassen muß, kann seine Schande nicht überleben. Annerl,liebes Annerl, nimm doch ja das Kränzlein, ich bin dir immer treugewesen, so Gott mir gnädig sei! Ich gebe dir nun deine Freiheitwieder, aber tue mir die Ehre und heirate nie einen, der schlechterwäre als ich. Und wenn du kannst, so bitte für mich, daß ich einehrliches Grab neben meiner Mutter erhalte; und wenn du hier inunserm Ort sterben solltest, so lasse dich auch bei uns begraben; diegute Großmutter wird auch zu uns kommen, da sind wir alle beisammen.Ich habe funfzig Taler in meinem Felleisen, die sollen auf Interessengelegt werden für dein erstes Kind. Meine silberne Uhr soll der HerrPfarrer haben, wenn ich ehrlich begraben werde. Mein Pferd, dieUniform und Waffen gehören dem Herzog, diese meine Brieftasche gehörtdein. Adies, herztausender Schatz, adies, liebe Großmutter, betetfür mich und lebt alle wohl!–Gott erbarme sich meiner ach, meineVerzweiflung ist groß!” Ich konnte diese letzten Worte eines gewiß edeln unglücklichenMenschen nicht ohne bittere Tränen lesen.–“Der Kasper muß ein garguter Mensch gewesen sein, liebe Mutter”, sagte ich zu der Alten,welche nach diesen Worten stehen blieb und meine Hand drückte und mittiefbewegter Stimme sagte: “Ja, es war der beste Mensch auf der Welt.Aber die letzten Worte von der Verzweiflung hätte er nicht schreibensollen, die bringen ihn um sein ehrliches Grab, die bringen ihn aufdie Anatomie. Ach, lieber Schreiber, wenn Er hierin nur helfenkönnte!” “Wieso, liebe Mutter?” fragte ich, “was können diese letzten Wortedazu beitragen?”–“Ja, gewiß”, erwiderte sie, “der Gerichtshalter hates mir selbst gesagt. Es ist ein Befehl an alle Gerichte ergangen,daß nur die Selbstmörder aus Melancholie ehrlich sollen begrabenwerden, alle aber, die aus Verzweiflung Hand an sich gelegt, sollenauf die Anatomie; und der Gerichtshalter hat mir gesagt, daß er denKasper, weil er selbst seine Verzweiflung eingestanden, auf dieAnatomie schicken müsse.” “Das ist ein wunderlich Gesetz”, sagte ich, “denn man könnte wohl beijedem Selbstmord einen Prozeß anstellen, ob er aus Melancholie oderVerzweiflung entstanden, der so lange dauern müßte, daß der Richterund die Advokaten drüber in Melancholie und Verzweiflung fielen undauf die Anatomie kämen. Aber seid nur getröstet, liebe Mutter, unserHerzog ist ein so guter Herr, wenn er die ganze Sache hört, wird erdem armen Kasper gewiß ein Plätzchen neben der Mutter vergönnen.” “Das gebe Gott!” erwiderte die Alte. “Sehe Er nun, lieber Mensch:als der Gerichtshalter alles zu Papier gebracht hatte, gab er mir dieBrieftasche und den Kranz für die schöne Annerl, und so bin ich danngestern hierher gelaufen, damit ich ihr an ihrem Ehrentag den Trostnoch mit auf den Weg geben kann.–Der Kasper ist zu rechter Zeitgestorben; hätte er alles gewußt, er wäre närrisch geworden vorBetrübnis.” “Was ist es denn nun mit der schönen Annerl?” fragte ich die Alte;“bald sagt Ihr, sie habe nur noch wenige Stunden, bald sprecht Ihrvon ihrem Ehrentag, und sie werde Trost gewinnen durch Eure traurigeNachricht. Sagt mir doch alles heraus; will sie Hochzeit halten miteinem andern, ist sie tot, krank? Ich muß alles wissen, damit ich esin die Bittschrift setzen kann.” Da erwiderte die Alte: “Ach, lieber Schreiber, es ist nun so, GottesWille geschehe! Sehe Er, als Kasper kam, war ich doch nicht rechtfroh, als Kasper sich das Leben nahm, war ich doch nicht rechttraurig; ich hätte es nicht überleben können, wenn Gott sich meinernicht erbarmt gehabt hätte mit größerem Leid. Ja, ich sage Ihm: eswar mir ein Stein vor das Herz gelegt, wie ein Eisbrecher, und alledie Schmerzen, die wie Grundeis gegen mich stürzten und mir das Herzgewiß abgestoßen hätten, die zerbrachen an diesem Stein und triebenkalt vorüber. Ich will Ihm etwas erzählen, das ist betrübt: Als mein Patchen, die schöne Annerl, ihre Mutter verlor, die eineBase von mir war und sieben Meilen von uns wohnte, war ich bei derkranken Frau. Sie war die Witwe eines armen Bauern und hatte inihrer Jugend einen Jäger liebgehabt, ihn aber wegen seines wildenLebens nicht genommen. Der Jäger war endlich in solch Elend gekommen,daß er auf Tod und Leben wegen eines Mordes gefangen saß. Daserfuhr meine Base auf ihrem Krankenlager, und es tat ihr so weh, daßsie täglich schlimmer wurde und endlich in ihrer Todesstunde, als siemir die liebe schöne Annerl als mein Patchen übergab und Abschied vonmir nahm, noch in den letzten Augenblicken zu mir sagte: “Liebe AnneMargret, wenn du durch das Städtchen kömmst, wo der arme Jürgegefangen liegt, so lasse ihm sagen durch den Gefangenwärter, daß ichihn bitte auf meinem Todesbett, er solle sich zu Gott bekehren, unddaß ich herzlich für ihn gebetet habe in meiner letzten Stunde, unddaß ich ihn schön grüßen lasse.”–Bald nach diesen Worten starb diegute Base, und als sie begraben war, nahm ich die kleine Annerl, diedrei Jahr alt war, auf den Arm und ging mit ihr nach Haus. Vor dem Städtchen, durch das ich mußte, kam ich an derScharfrichterei vorüber, und weil der Meister berühmt war als einViehdoktor, sollte ich einige Arznei mitnehmen für unsern Schulzen.Ich trat in die Stube und sagte dem Meister, was ich wollte, und erantwortete, daß ich ihm auf den Boden folgen solle, wo er die Kräuterliegen habe, und ihm helfen aussuchen. Ich ließ Annerl in der Stubeund folgte ihm. Als wir zurück in die Stube traten, stand Annerl voreinem kleinen Schranke, der an der Wand befestigt war, und sprach:“Großmutter, da ist eine Maus drin; hört, wie es klappert; da isteine Maus drin!” Auf diese Rede des Kindes machte der Meister ein sehr ernsthaftesGesicht, riß den Schrank auf und sprach: “Gott sei uns gnädig!”, denner sah sein Richtschwert, das allein in dem Schranke an einem Nagelhing, hin und her wanken. Er nahm das Schwert herunter, und mirschauderte. “Liebe Frau”, sagte er, “wenn Ihr das kleine liebeAnnerl liebhabt, so erschreckt nicht, wenn ich ihm mit meinem Schwert,rings um das Hälschen, die Haut ein wenig aufritze; denn das Schwerthat vor ihm gewankt, es hat nach seinem Blut verlangt, und wenn ichihm den Hals damit nicht ritze, so steht dem Kinde groß Elend imLeben bevor.” Da faßte er das Kind, welches entsetzlich zu schreienbegann, ich schrie auch und riß das Annerl zurück. Indem trat derBürgermeister des Städtchens herein, der von der Jagd kam und demRichter einen kranken Hund zur Heilung bringen wollte. Er fragtenach der Ursache des Geschreis, Annerl schrie: “Er will michumbringen!” Ich war außer mir vor Entsetzen. Der Richter erzähltedem Bürgermeister das Ereignis. Dieser verwies ihm seinenAberglauben, wie er es nannte, heftig und unter starken Drohungen;der Richter blieb ganz ruhig dabei und sprach: “So habens meine Vätergehalten, so halt ichs.” Da sprach der Bürgermeister: “Meister Franz,wenn Ihr glaubtet, Euer Schwert habe sich gerührt, weil ich Euchhiermit anzeige, daß morgen früh um sechs Uhr der Jäger Jürge vonEuch soll geköpft werden, so wollt ich es noch verzeihen; aber daßIhr daraus etwas auf dies liebe Kind schließen wollt, das istunvernünftig und toll. Es könnte so etwas einen Menschen inVerzweiflung bringen, wenn man es ihm später in seinem Alter sagte,daß es ihm in seiner Jugend geschehen sei. Man soll keinen Menschenin Versuchung führen.”–“Aber auch keines Richters Schwert”, sagteMeister Franz vor sich und hing sein Schwert wieder in den Schrank.Nun küßte der Bürgermeister das Annerl und gab ihm eine Semmel ausseiner Jagdtasche, und da er mich gefragt, wer ich sei, wo ich herkomme und wo ich hin wolle, und ich ihm den Tod meiner Base erzählthatte und auch den Auftrag an den Jäger Jürge, sagte er mir: “Ihrsollt ihn ausrichten, ich will Euch selbst zu ihm führen; er hat einhartes Herz, vielleicht wird ihn das Andenken einer guten Sterbendenin seinen letzten Stunden rühren.” Da nahm der gute Herr mich undAnnerl auf seinen Wagen, der vor der Tür hielt, und fuhr mit uns indas Städtchen hinein. Er hieß mich zu seiner Köchin gehn; da kriegten wir gutes Essen, undgegen Abend ging er mit mir zu dem armen Sünder; und als ich dem dieletzten Worte meiner Base erzählte, fing er bitterlich an zu weinenund schrie: “Ach Gott, wenn sie mein Weib geworden, wäre es nicht soweit mit mir gekommen.” Dann begehrte er, man solle den HerrnPfarrer doch noch einmal zu ihm bitten, er wolle mit ihm beten. Dasversprach ihm der Bürgermeister und lobte ihn wegen seinerSinnesveränderung und fragte ihn, ob er vor seinem Tode noch einenWunsch hätte, den er ihm erfüllen könne. Da sagte der Jäger Jürge:“Ach, bittet hier die gute alte Mutter, daß sie doch morgen mit demTöchterlein ihrer seligen Base bei meinem Rechte zugegen sein mögen;das wird mir das Herz stärken in meiner letzten Stunde.” Da bat michder Bürgermeister, und so graulich es mir war, so konnte ich es demarmen, elenden Menschen nicht abschlagen. Ich mußte ihm die Handgeben und es ihm feierlich versprechen, und er sank weinend auf dasStroh. Der Bürgermeister ging dann mit mir zu seinem Freunde, demPfarrer, dem ich nochmals alles erzählen mußte, ehe er sich insGefängnis begab. Die Nacht mußte ich mit dem Kinde in des Bürgermeisters Haus schlafen,und am andern Morgen ging ich den schweren Gang zu der Hinrichtungdes Jägers Jürge. Ich stand neben dem Bürgermeister im Kreis und sah,wie er das Stäblein brach. Da hielt der Jäger Jürge noch eineschöne Rede, und alle Leute weinten, und er sah mich und die kleineAnnerl, die vor mir stand, gar beweglich an, und dann küßte er denMeister Franz, der Pfarrer betete mit ihm, die Augen wurden ihmverbunden, und er kniete nieder. Da gab ihm der Richter denTodesstreich. “Jesus, Maria, Joseph!” schrie ich aus; denn der Kopfdes Jürgen flog gegen Annerl zu und biß mit seinen Zähnen dem Kindein sein Röckchen, das ganz entsetzlich schrie. Ich riß meine Schürzevom Leibe und warf sie über den scheußlichen Kopf, und Meister Franzeilte herbei, riß ihn los und sprach: “Mutter, Mutter, was habe ichgestern morgen gesagt? Ich kenne mein Schwert, es ist lebendig!“–Ich war niedergesunken vor Schreck, das Annerl schrie entsetzlich.Der Bürgermeister war ganz bestürzt und ließ mich und das Kind nachseinem Hause fahren; da schenkte mir seine Frau andre Kleider fürmich und das Kind, und nachmittag schenkte uns der Bürgermeister nochGeld, und viele Leute des Städtchens auch, die Annerl sehen wollten,so daß ich an zwanzig Taler und viele Kleider für sie bekam. AmAbend kam der Pfarrer ins Haus und redete mir lange zu, daß ich dasAnnerl nur recht in der Gottesfurcht erziehen sollte und auf alle diebetrübten Zeichen gar nichts geben, das seien nur Schlingen desSatans, die man verachten müsse; und dann schenkte er mir noch eineschöne Bibel für das Annerl, die sie noch hat, und dann ließ uns dergute Bürgermeister, am andern Morgen, noch an drei Meilen weit nachHaus fahren. Ach, du mein Gott, und alles ist doch eingetroffen!”sagte die Alte und schwieg. Eine schauerliche Ahnung ergriff mich, die Erzählung der Alten hattemich ganz zermalmt. “Um Gottes willen, Mutter”, rief ich aus, “wasist es mit der armen Annerl geworden; ist denn gar nicht zu helfen?” “Es hat sie mit den Zähnen dazu gerissen”, sagte die Alte; “heut wirdsie gerichtet; aber sie hat es in der Verzweiflung getan, die Ehre,die Ehre lag ihr im Sinn. Sie war zuschanden gekommen aus Ehrsucht,sie wurde verführt von einem Vornehmen, er hat sie sitzen lassen, siehat ihr Kind erstickt in derselben Schürze, die ich damals über denKopf des Jägers Jürge warf, und die sie mir heimlich entwendet hat.Ach, es hat sie mit Zähnen dazu gerissen, sie hat es in derVerwirrung getan. Der Verführer hatte ihr die Ehe versprochen undgesagt, der Kasper sei in Frankreich geblieben. Dann ist sieverzweifelt und hat das Böse getan und hat sich selbst bei denGerichten angegeben. Um vier Uhr wird sie gerichtet. Sie hat mirgeschrieben, ich möchte noch zu ihr kommen; das will ich nun tun undihr das Kränzlein und den Gruß von dem armen Kasper bringen und dieRose, die ich heut nacht erhalten; das wird sie trösten. Ach, lieberSchreiber, wenn Er es nur in der Bittschrift auswirken kann, daß ihrLeib und auch der Kasper dürfen auf unsern Kirchhof gebracht werden.” “Alles, alles will ich versuchen!” rief ich aus, “gleich will ichnach dem Schlosse laufen; mein Freund, der Ihr die Rose gab, hat dieWache dort, er soll mir den Herzog wecken, ich will vor sein Bettknien und ihn um Pardon für Annerl bitten.” “Pardon?” sagte die Alte kalt. “Es hat sie ja mit Zähnen dazugezogen; hör Er, lieber Freund, Gerechtigkeit ist besser als Pardon;war hilft aller Pardon auf Erden? Wir müssen doch alle vor dasGericht: Ihr Toten, ihr Toten sollt auferstehn,Ihr sollt vor das Jüngste Gerichte gehn. Seht, sie will keinen Pardon, man hat ihn ihr angeboten, wenn sie denVater des Kindes nennen wolle; aber das Annerl hat gesagt: “Ich habesein Kind ermordet und will sterben und ihn nicht unglücklich machen;ich muß meine Strafe leiden, daß ich zu meinem Kinde komme, aber ihnkann es verderben, wenn ich ihn nenne.” Darüber wurde ihr dasSchwert zuerkannt. Gehe Er zum Herzog, und bitte Er für Kasper undAnnerl um ein ehrlich Grab! Gehe Er gleich! Seh Er: dort geht derHerr Pfarrer ins Gefängnis; ich will ihn ansprechen, daß er mich mithinein zum schönen Annerl nimmt. Wenn Er sich eilt, so kann Er unsdraußen am Gerichte vielleicht den Trost noch bringen mit demehrlichen Grab für Kasper und Annerl.” Unter diesen Worten waren wir mit dem Prediger zusammengetroffen; dieAlte erzählte ihr Verhältnis zu der Gefangenen, und er nahm siefreundlich mit zum Gefängnis. Ich aber eilte nun, wie ich noch niegelaufen, nach dem Schlosse, und es machte mir einen tröstendenEindruck, es war mir wie ein Zeichen der Hoffnung, als ich an GrafGrossingers Hause vorüberstürzte und aus einem offenen Fenster desGartenhauses eine liebliche Stimme zur Laute singen hörte: Die Gnade sprach von Liebe,Die Ehre aber wachtUnd wünscht voll Lieb der GnadeIn Ehren gute Nacht. Die Gnade nimmt den Schleier,Wenn Liebe Rosen gibt,Die Ehre grüßt den Freier,Weil sie die Gnade liebt. Ach, ich hatte der guten Wahrzeichen noch mehr! Einhundert Schritteweiter fand ich einen weißen Schleier auf der Straße liegend; ichraffte ihn auf, er war voll von duftenden Rosen. Ich hielt ihn inder Hand und lief weiter, mit dem Gedanken: ach Gott, das ist dieGnade. Als ich um die Ecke bog, sah ich einen Mann, der sich inseinem Mantel verhüllte, als ich vor ihm vorübereilte, und mir heftigden Rücken wandte, um nicht gesehen zu werden. Er hätte es nichtnötig gehabt, ich sah und hörte nichts in meinem Innern als: Gnade,Gnade! und stürzte durch das Gittertor in den Schloßhof. Gott seiDank, der Fähndrich, Graf Grossinger, der unter den blühendenKastanienbäumen vor der Wache auf und ab ging, trat mir schonentgegen. “Lieber Graf”, sagte ich mit Ungestüm, “Sie müssen mich gleich zumHerzog bringen, gleich auf der Stelle, oder alles ist zu spät, allesist verloren!” Er schien verlegen über diesen Antrag und sagte: “Was fällt Ihnen ein,zu dieser ungewohnten Stunde? Es ist nicht möglich; kommen Sie zurParade, da will ich Sie vorstellen.” Mir brannte der Boden unter den Füßen; “jetzt”, rief ich aus, “odernie! Es muß sein, es betrifft das Leben eines Menschen.” “Es kann jetzt nicht sein”, erwiderte Grossinger scharf absprechend,“es betrifft meine Ehre; es ist mir untersagt, heute nacht irgendeineMeldung zu tun.” Das Wort Ehre machte mich verzweifeln; ich dachte an Kaspers Ehre, anAnnerls Ehre und sagte: “Die vermaledeite Ehre! Gerade um die letzteHülfe zu leisten, welche so eine Ehre übriggelassen, muß ich zumHerzoge, Sie müssen mich melden, oder ich schreie laut nach demHerzog.” “So Sie sich rühren”, sagte Grossinger heftig, “lasse ich Sie in dieWache werfen, Sie sind ein Phantast, Sie kennen keine Verhältnisse.” “O, ich kenne Verhältnisse, schreckliche Verhältnisse! Ich muß zumHerzoge, jede Minute ist unerkauflich!” versetzte ich; “wollen Siemich nicht gleich melden, so eile ich allein zu ihm.” Mit diesen Worten wollte ich nach der Treppe, die zu den Gemächerndes Herzogs hinaufführte, als ich den nämlichen in einen MantelVerhüllten, der mir begegnete, nach dieser Treppe eilend bemerkte.Grossinger drehte mich mit Gewalt um, daß ich diesen nicht sehensollte. “Was machen Sie, Töriger?” flüsterte er mir zu, “schweigenSie, ruhen Sie, Sie machen mich unglücklich!” “Warum halten Sie den Mann nicht zurück, der da hinaufging?” sagteich; “er kann nichts Dringenderes vorzubringen haben als ich. Ach,es ist so dringend, ich muß, ich muß! Es betrifft das Schicksaleines unglücklichen, verführten, armen Geschöpfs.” Grossinger erwiderte: “Sie haben den Mann hinaufgehen sehen; wenn Sieje ein Wort davon äußern, so kommen Sie vor meine Klinge; gerade,weil er hinaufging, können Sie nicht hinauf, der Herzog hat Geschäftemit ihm.” Da erleuchteten sich die Fenster des Herzogs. “Gott, er hat Licht,er ist auf!” sagte ich, “ich muß ihn sprechen, um des Himmels willen,lassen Sie mich, oder ich schreie Hülfe.” Grossinger faßte mich beim Arm und sagte: “Sie sind betrunken, kommenSie in die Wache. Ich bin Ihr Freund, schlafen Sie aus und sagen Siemir das Lied, das die Alte heut nacht an der Tür sang, als ich dieRunde vorüberführte; das Lied interessiert mich sehr.” “Gerade wegen der Alten und den Ihrigen muß ich mit dem Herzogesprechen!” rief ich aus. “Wegen der Alten?” versetzte Grossinger, “wegen der sprechen Sie mitmir, die großen Herrn haben keinen Sinn für so etwas; geschwindkommen Sie nach der Wache!” Er wollte mich fortziehen; da schlug die Schloßuhr halb vier. DerKlang schnitt mir wie ein Schrei der Not durch die Seele, und ichschrie aus voller Brust zu den Fenstern des Herzogs hinauf: “Hülfe! Um Gottes willen, Hülfe für ein elendes, verführtes Geschöpf!”Da ward Grossinger wie unsinnig. Er wollte mir den Mund zuhalten,aber ich rang mit ihm; er stieß mich in den Nacken, er schimpfte; ichfühlte, ich hörte nichts. Er rief nach der Wache, der Korporal eiltemit etlichen Soldaten herbei, mich zu greifen; aber in dem Augenblickging des Herzogs Fenster auf, und es rief herunter: “Fähndrich Graf Grossinger, was ist das für ein Skandal? Bringen Sieden Menschen herauf, gleich auf der Stelle!” Ich wartete nicht auf den Fähndrich; ich stürzte die Treppe hinauf,ich fiel nieder zu den Füßen des Herzogs, der mich betroffen undunwillig aufstehen hieß. Er hatte Stiefel und Sporen an, und docheinen Schlafrock, den er sorgfältig über der Brust zusammenhielt. Ich trug dem Herzoge alles, was mir die Alte von dem Selbstmorde desUlans, von der Geschichte der schönen Annerl erzählt hatte, sogedrängt vor, als es die Not erforderte, und flehte ihn wenigstens umden Aufschub der Hinrichtung auf wenige Stunden und um ein ehrlichesGrab für die beiden Unglücklichen an, wenn Gnade unmöglich sei.–“Ach,Gnade, Gnade!” rief ich aus, indem ich den gefundenen weißenSchleier voll Rosen aus dem Busen zog; “dieser Schleier, den ich aufmeinem Wege hierher gefunden, schien mir Gnade zu verheißen.” Der Herzog griff mit Ungestüm nach dem Schleier und war heftig bewegt;er drückte den Schleier in seinen Händen, und als ich die Worteaussprach: “Euer Durchlaucht! Dieses arme Mädchen ist ein Opferfalscher Ehrsucht; ein Vornehmer hat sie verführt und ihr die Eheversprochen; ach, sie ist so gut, daß sie lieber sterben will als ihnnennen”–da unterbrach mich der Herzog, mit Tränen in den Augen, undsagte: “Schweigen Sie, ums Himmels willen, schweigen Sie!”–Und nunwendete er sich zu dem Fähndrich, der an der Türe stand, und sagtemit dringender Eile: “Fort eilend zu Pferde mit diesem Menschen hier;reiten Sie das Pferd tot; nur nach dem Gerichte hin: heften siediesen Schleier an Ihren Degen, winken und schreien Sie Gnade, Gnade!Ich komme nach.” Grossinger nahm den Schleier; er war ganz verwandelt, er sah aus wieein Gespenst vor Angst und Eile; wir stürzten in den Stall, saßen zuPferde und ritten im Galopp; er stürmte wie ein Wahnsinniger zum Torehinaus. Als er den Schleier an seine Degenspitze heftete, schrie er.“Herr Jesus, meine Schwester!” Ich verstand nicht, was er wollte.Er stand hoch im Bügel und wehte und schrie: “Gnade, Gnade!” Wirsahen auf dem Hügel die Menge um das Gericht versammelt. Mein Pferdscheute vor dem wehenden Tuch. Ich bin ein schlechter Reiter, ichkonnte den Grossinger nicht einholen, er flog im schnellsten Karriere;ich strengte alle Kräfte an. Trauriges Schicksal! Die Artillerieexerzierte in der Nähe, der Kanonendonner machte es unmöglich, unserGeschrei aus der Ferne zu hören. Grossinger stürzte, das Volk stobauseinander, ich sah in den Kreis, ich sah einen Stahlblitz in derfrühen Sonne–ach Gott, es war der Schwertblitz des Richters!–Ichsprengte heran, ich hörte das Wehklagen der Menge. “Pardon, Pardon!”schrie Grossinger und stürzte mit wehendem Schleier durch den Kreis,wie ein Rasender, aber der Richter hielt ihm das blutende Haupt derschönen Annerl entgegen, das ihn wehmütig anlächelte. Da schrie er:“Gott sei mir gnädig!” und fiel auf die Leiche hin zur Erde; “tötetmich, tötet mich, ihr Menschen; ich habe sie verführt, ich bin ihrMörder!” Eine rächende Wut ergriff die Menge; die Weiber und Jungfrauendrangen heran und rissen ihn von der Leiche und traten ihn mit Füßen,er wehrte sich nicht; die Wachen konnten das wütende Volk nichtbändigen. Da erhob sich ein Geschrei: “Der Herzog, der Herzog!”–Erkam im offnen Wagen gefahren; ein blutjunger Mensch, den Hut tief insGesicht gedrückt, in einen Mantel gehüllt, saß neben ihm. DieMenschen schleiften Grossinger herbei. “Jesus, mein Bruder!” schrieder junge Offizier mit der weiblichsten Stimme aus dem Wagen. DerHerzog sprach bestürzt zu ihm: “Schweigen Sie!” Er sprang aus demWagen, der junge Mensch wollte folgen, der Herzog drängte ihn schierunsanft zurück, aber so beförderte sich die Entdeckung, daß der jungeMensch die als Offizier verkleidete Schwester Grossingers sei. DerHerzog ließ den mißhandelten, ohnmächtigen Grossinger in den Wagenlegen, die Schwester nahm keine Rücksicht mehr, sie warf ihren Mantelüber ihn; jedermann sah sie in weiblicher Kleidung. Der Herzog warverlegen, aber er sammelte sich und befahl, den Wagen sogleichumzuwenden und die Gräfin mit ihrem Bruder nach ihrer Wohnung zufahren. Dieses Ereignis hatte die Wut der Menge einigermaßengestillt. Der Herzog sagte laut zu dem wachthabenden Offizier: “DieGräfin Grossinger hat ihren Bruder an ihrem Hause vorbereiten sehen,den Pardon zu bringen, und wollte diesem freudigen Ereignis beiwohnen;als ich zu demselben Zwecke vorüberfuhr, stand sie am Fenster undbat mich, sie in meinem Wagen mitzunehmen; ich konnte es demgutmütigen Kinde nicht abschlagen. Sie nahm einen Mantel und Hutihres Bruders, um kein Aufsehen zu erregen, und hat, von demunglücklichen Zufall überrascht, die Sache gerade dadurch zu einemabenteuerlichen Skandal gemacht. Aber wie konnten Sie, Herr Leutnant,den unglücklichen Grafen Grossinger nicht vor dem Pöbel schützen?Es ist ein gräßlicher Fall, daß er, mit dem Pferde stürzend, zu spätkam; er kann doch aber nichts dafür. Ich will die Mißhandler desGrafen verhaftet und bestraft wissen.” Auf diese Rede des Herzogs erhob sich ein allgemeines Geschrei: “Erist ein Schurke, er ist der Verführer, der Mörder der schönen Annerlgewesen, er hat es selbst gesagt, der elende, der schlechte Kerl!” Als dies von allen Seiten hertönte und auch der Prediger und derOffizier und die Gerichtspersonen es bestätigten, war der Herzog sotief erschüttert, daß er nichts sagte, als: “Entsetzlich, entsetzlich,o, der elende Mensch!” Nun trat der Herzog blaß und bleich in den Kreis; er wollte dieLeiche der schönen Annerl sehen. Sie lag auf dem grünen Rasen ineinem schwarzen Kleide mit weißen Schleifen. Die alte Großmutter,welche sich um alles, was vorging, nicht bekümmerte, hatte ihr dasHaupt an den Rumpf gelegt und die schreckliche Trennung mit ihrerSchürze bedeckt; sie war beschäftigt, ihr die Hände über die Bibel zufalten, welche der Pfarrer in dem kleinen Städtchen der kleinenAnnerl geschenkt hatte; das goldene Kränzlein band sie ihr auf denKopf und steckte die Rose vor die Brust, welche ihr Grossinger in derNacht gegeben hatte, ohne zu wissen, wem er sie gab. Der Herzog sprach bei diesem Anblick: “Schönes, unglückliches Annerl!Schändlicher Verführer, du kamst zu spät!–Arme alte Mutter, du bistihr allein treu geblieben, bis in den Tod.” Als er mich bei diesenWorten in seiner Nähe sah, sprach er zu mir: “Sie sagten mir voneinem letzten Willen des Korporal Kasper, haben Sie ihn bei sich?”Da wendete ich mich zu der Alten und sagte: “Arme Mutter, gebt mirdie Brieftasche Kaspers; Seine Durchlaucht wollen seinen letztenWillen lesen.” Die Alte, welche sich um nichts bekümmerte, sagte mürrisch: “Ist Erauch wieder da? Er hätte lieber ganz zu Hause bleiben können. HatEr die Bittschrift? Jetzt ist es zu spät; ich habe dem armen Kindeden Trost nicht geben können, daß sie zu Kasper in ein ehrliches Grabsoll; ach, ich hab es ihr vorgelogen, aber sie hat mir nicht geglaubt.” Der Herzog unterbrach sie und sprach: “Ihr habt nicht gelogen, guteMutter; der Mensch hat sein Möglichstes getan, der Sturz des Pferdesist an allem schuld. Aber sie soll ein ehrliches Grab haben beiihrer Mutter und bei Kasper, der ein braver Kerl war; es soll ihnenbeiden eine Leichenpredigt gehalten werden über die Worte: “Gebt Gottallein die Ehre!” Der Kasper soll als Fähndrich begraben werden,seine Schwadron soll ihm dreimal ins Grab schießen, und desVerderbers Grossingers Degen soll auf seinen Sarg gelegt werden.” Nach diesen Worten ergriff er Grossingers Degen, der mit dem Schleiernoch an der Erde lag, nahm den Schleier herunter, bedeckte Annerldamit und sprach: “Dieser unglückliche Schleier, der ihr so gernGnade gebracht hätte, soll ihr die Ehre wiedergeben; sie ist ehrlichund begnadigt gestorben, der Schleier soll mit ihr begraben werden.” Den Degen gab er dem Offizier der Wache mit den Worten: “Sie werdenheute noch meine Befehle wegen der Bestattung des Ulanen und diesesarmen Mädchens bei der Parade empfangen.” Nun las er auch die letzten Worte Kaspers laut mit vieler Rührung;die alte Großmutter umarmte mit Freudentränen seine Füße, als wäresie das glücklichste Weib. Er sagte zu ihr: “Gebe Sie sich zufrieden,Sie soll eine Pension haben bis an Ihr seliges Ende, ich will IhremEnkel und der Annerl einen Denkstein setzen lassen.–Nun befahl erdem Prediger, mit der Alten und einem Sarge, in welchen dieGerichtete gelegt wurde, nach seiner Wohnung zu fahren und sie dannnach ihrer Heimat zu bringen und das Begräbnis zu besorgen. Dawährenddem seine Adjutanten mit Pferden gekommen waren, sagte er nochzu mir: “Geben Sie meinem Adjutanten Ihren Namen an, ich werde Sierufen lassen; Sie haben einen schönen menschlichen Eifer gezeigt.”Der Adjutant schrieb meinen Namen in seine Schreibtafel und machtemir ein verbindliches Kompliment. Dann sprengte der Herzog, von denSegenswünschen der Menge begleitet, in die Stadt. Die Leiche derschönen Annerl ward nun mit der guten alten Großmutter in das Hausdes Pfarrers gebracht, und in der folgenden Nacht fuhr dieser mit ihrnach der Heimat zurück. Der Offizier traf, mit dem Degen Grossingersund einer Schwadron Ulanen, auch daselbst am folgenden Abend ein. Dawurde nun der brave Kasper, mit Grossingers Degen auf der Bahre unddem Fähndrichspatent, neben der schönen Annerl, zur Seite seinerMutter begraben. Ich war auch hingeeilt und führte die alte Mutter,welche kindisch vor Freude war, aber wenig redete; und als die Ulanendem Kasper zum drittenmal ins Grab schossen, fiel sie mir tot in dieArme. Sie hat ihr Grab auch neben den Ihrigen empfangen. Gott gebeihnen allen eine freudige Auferstehung! Sie sollen treten auf die Spitzen,Wo die lieben Engelein sitzen,Wo kömmt der liebe Gott gezogenMit einem schönen Regenbogen;Da sollen ihre Seelen vor Gott bestehn,Wann wir werden zum Himmel eingehn.Amen. Als ich in die Hauptstadt zurückkam, hörte ich, Graf Grossinger seigestorben; er habe Gift genommen. In meiner Wohnung fand ich einenBrief von ihm; er sagte mir darin: “Ich habe Ihnen viel zu danken. Sie haben meine Schande, die mirlange das Herz abnagte, zutage gebracht. Jenes Lied der Alten kannteich wohl, die Annerl hatte es mir oft vorgesagt, sie war einunbeschreiblich edles Geschöpf. Ich war ein elender Verbrecher. Siehatte ein schriftliches Eheversprechen von mir gehabt und hat esverbrannt. Sie diente bei einer alten Tante von mir, sie litt oft anMelancholie. Ich habe mich durch gewisse medizinische Mittel, dieetwas Magisches haben, ihrer Seele bemächtigt.–Gott sei mir gnädig!–Sie haben auch die Ehre Meiner Schwester gerettet. Der Herzogliebt sie, ich war sein Günstling–die Geschichte hat ihnerschüttert–Gott helfe mir, ich habe Gift genommen Joseph Graf Grossinger.” Die Schürze der schönen Annerl, in welche ihr der Kopf des JägersJürge bei seiner Enthauptung gebissen, ist auf der herzoglichenKunstkammer bewahrt worden. Man sagt, die Schwester des GrafenGrossinger werde der Herzog mit dem Namen: Voile de Grace, aufdeutsch “Gnadenschleier”, in den Fürstenstand erheben und sich mitihr vermählen. Bei der nächsten Revue in der Gegend von D… solldas Monument auf den Gräbern der beiden unglücklichen Ehrenopfer, aufdem Kirchhofe des Dorfs, errichtet und eingeweiht werden, der Herzogwird mit der Fürstin selbst zugegen sein. Er ist ausnehmendzufrieden damit; die Idee soll von der Fürstin und dem Herzogezusammen erfunden sein. Es stellt die falsche und wahre Ehre vor,die sich vor einem Kreuze beiderseits gleich tief zur Erde beugen;die Gerechtigkeit steht mit dem geschwungenen Schwerte zur einenSeite, die Gnade zur andern Seite und wirft einen Schleier heran.Man will im Kopfe der Gerechtigkeit ähnlichkeit mit dem Herzoge, indem Kopfe der Gnade ähnlichkeit mit dem Gesichte der Fürstin finden.